Frequently Asked Questions
"Geht das auch bei unseren KlientInnen?" bzw. "Für welchen Personenkreis ist KISS geeignet?"
Nach den Erfahrungen mit der ersten KISS-Gruppe in der Palette Hamburg ist KISS bei einem breiten Spektrum an KonsumentInnen illegaler Drogen erfolgversprechend umsetzbar – auch den KonsumentInnen, die Einrichtungen der niedrigschwelligen Drogenhilfe aufsuchen und sich in körperlich, sozial und psychisch schlechtem Zustand befinden.
Die acht TeilnehmerInnen (TN) der ersten Hamburger KISS-Gruppe wiesen zum Beispiel zwischen zwei und sechs ICD-10-Diagnosen für Substanzabhängigkeit auf und konsumierten darüber hinaus weitere Substanzen, vier Klienten befanden sich in Substitutionsbehandlung, ein Klient war wohnungslos etc. Die TN waren also in einem Ausmaß bio-psycho-sozial beeinträchtigt, dass man erst einmal nicht vermuten würde, dass sie zu einem Selbstkontrollprogramm in der Lage wären.
Mit anderen Worten: Die entscheidende Voraussetzung für die Teilnahme am KISS-Programm ist die bereits vorhandene oder (zum Beispiel durch Motivational Interviewing beförderte) Motivation des Klienten, eine Konsumveränderung herbeiführen zu wollen. Multipler Drogengebrauch/-abhängigkeit, soziale Desintegration (wie Wohnungslosigkeit), psychische Begleiterkrankungen etc. sind zwar erschwerende Startbedingungen, aber keineswegs Kontraindikationen für KISS.
"Geht denn kontrollierter Konsum bei ‚richtig Drogenabhängigen’ überhaupt?"
Diese Frage ist eine spezielle Variante der ersten Frage. Die Antwort: Ja. Es gibt aus den Hamburger Palette-Erfahrungen und vielen anderen Praxiserfahrungen, aber auch aus der Forschung heraus (Meili et al., 2004; Schippers et al., 2002)
1 hinreichend Anhaltspunkte dafür, dass DrogenkonsumentInnen bei der Substanz, für die eine ICD-10-Abhängigkeitsdiagnose besteht, nennenswerte Konsumreduktionen erzielen können. Auch die ominösen Spekulationen um ein angebliches „Suchtgedächtnis“ haben –genauer besehen – dem nichts entgegenzusetzen (Körkel, 2005)
2.
Mit anderen Worten: Es gibt Belege aus der Forschung und Erfahrungen aus der Praxis, dass nicht nur DrogengebraucherInnen, sondern auch Drogenabhängige zu einer Konsumreduktion in der Lage sind.
1 Meili, D., Dober, S. & Eyal, E. (2004). Suchttherapie, 5; Schippers, G. & Cramer, E. (2002). Suchttherapie, 3, 71-80.
2 Körkel, J. (2005). Kontrolliertes Trinken: Zwischen freiem Willen und biologischem Determinismus. In Fontane-Klinik Motzen (Hrsg.), Willensfreiheit - eine nützliche Illusion in der Psychotherapie … (Schriftenreihe der Fontane-Klinik und des Psychotherapie-Institutes Motzen, Band 9) (S. 66 – 88). Fontane-Klinik: Eigendruck
"Ist kontrollierter Konsum auch in Bezug auf Kokain und vor allem Crack möglich – oder verhindert nicht die unbeherrschbare Gier eine Konsumbegrenzung, wenn man erst einmal damit angefangen hat?" Anders gesagt: "Gibt es Drogen, bei denen eine Konsumkontrolle nicht möglich ist?"
In der Praxis erweist sich die Erfolgswahrscheinlichkeit, auch Kokain im Allgemeinen und Crack im Besonderen selbstkontrolliert konsumieren zu können, als nicht geringer als bei anderen Drogen. Es ist eher ein Mythos als vorfindbare Realität, dass bestimmte Drogen „per se“ nicht zu kontrollieren seien. Übrigens sprechen auch die Ergebnisse des europäischen Kokain-Projektes (Prinzleve et al., 2004)
3 dafür, dass es zumindest einen Teil der KokainkonsumentInnen gibt, der dosiert mit der Droge umgeht.
3 Prinzleve, M., Haasen, C., Zurhold, H., Matali, J.L., Bruguera, E., Gerevich, J., Bacskai, E., Ryder, N., Butler, S., Manning, V., Gossop, M., Pezous, A.-M., Verster, A., Camposeragna, A., Andersson, P., Olsson, B., Primorac, A., Fischer, G., Guettinger, F., Rehm, J. & Krausz, M. (2004). Cocaine use in Europe - a multi-centre study: Patterns of use in different groups. European Addiction Research, 10, 147-155.
"Sind Drogenabhängige nicht viel zu destruktiv für so ein Gruppenprogramm?" bzw. "’Ziehen sich Drogenabhängige in einer Gruppe nicht ständig nur gegenseitig runter’?"
Weit gefehlt! Zumindest dann, wenn die Gruppenleitung einen respektvollen Umgang beherzigt, ein gutes Vorbild ist und einen „guten Geist“ in der Gruppe ausstrahlt, stellt sich ein konstruktives Miteinander unter den Gruppenmitgliedern ein: Sie hören einander zu, gehen aufeinander ein, beteiligen sich an den gemeinsamen Aufgaben/Übungen, haben offensichtliches Interesse an den Veränderungen der anderen, sprechen sich Mut zu usw. Auffallend in der Hamburger Palette-Gruppe sowie einer Vorläufergruppe in Berlin war auch, dass es keine „Substanzwertigkeiten“ unter den TN gibt. Das heißt etwa, dass jemand, der seinen Heroinkonsum im Fokus der Reduktion hat, kein besseres Gruppenimage besitzt als jemand, dessen Reduktionssubstanz Alkohol ist. Es geht allen um Ernsthaftigkeit bei der Konsumreduktion – nicht aber um die Substanz, die dabei im Mittelpunkt steht.
"Sind Drogenabhängige zuverlässig genug, um regelmäßig einen festen Gruppentermin wahrzunehmen?"
Die Teilnahmehäufigkeit der KlientInnen an der ersten Hamburger KISS-Gruppe (Palette) war erstaunlich – und entspricht nicht dem Bild (Vorurteil?) des unzuverlässigen Drogenabhängigen. Wenn man den einen der acht KlientInnen, der nach der ersten Gruppensitzung nicht mehr erschienen ist, abrechnet, waren an den in Hamburg durchgeführten 11 Gruppensitzungen durchschnittlich 76% der KlientInnen anwesend. Und: War jemand nicht anwesend, lag dies ganz offensichtlich so gut wie nie in Lustlosigkeit, sondern den schwierigen Lebensumständen begründet. Beispielsweise war ein Klient einmal nicht anwesend, weil er akut von einer Räumungsklage betroffen war und aktiv werden musste, um diese abzuwenden. Eine Klientin fehlte in einer Sitzung, weil sie keine Betreuung für ihre Kinder finden konnte usw.
Im Übrigen wurden versäumte Gruppentermine oftmals in Einzelsitzungen nachgeholt – und zwar auf Wunsch der KlientInnen. Diese Einzelsitzungen mitgerechnet, wurden 89,6% der KISS-Einheiten von den TN absolviert.
"Ist so ein Programm wie KISS nicht etwas für ‚Gebildete’ (z.B. angesichts des vielen Arbeitsmaterials und der umfangreichen Konsumtagebücher)?"
Ein geringer Bildungsstand erwies sich bislang nicht als Erschwernis oder gar Hinderungsgrund für die Teilnahme. Alle Arbeitsmaterialien können selbst KlientInnen mit geringen sprachlichen Fähigkeiten erläutert und so nutzbar gemacht werden.
"Die Junkies lügen und tricksen doch. Ihren Aussagen, wie viel sie von was nehmen, kann man nicht trauen."
Die bisherigen Erfahrungen sprechen für ein hohes Maß an Offenheit, das sich in den KISS-Gruppen entfalten kann. Spätestens dann, wenn die KlientInnen merken, dass Offenheit begrüßt und – wie immer sie aussehen mag - nicht sanktioniert wird, gibt es keinerlei ersichtliche Gründe anzunehmen, dass die Aussagen der KISS-TN weniger ehrlich wären als die von Menschen ganz generell.
"Wie ‚findet’ man KISS-TeilnehmerInnen? Und wie kriegt man genug TeilnehmerInnen für eine Gruppe zusammen?"
Zunächst einmal ist es sinnvoll, durch Auslegen von Flyern, Aufhängen von Plakaten, Berichte in „Junkie-Zeitschriften“ und persönliche Ansprache geeignet erscheinende KlientInnen auf KISS aufmerksam zu machen. Darüber hinaus ist es fruchtbar, an zentralen Zusammenkünften – etwa in niedrigschwelligen Kontaktläden – mit KlientInnen über das Thema der Konsumkontrolle ins Gespräch zu kommen. Dabei entstehen erstaunlich lebendige Diskussionen und ein gesteigertes Interesse an eigenen Veränderungen wird geweckt.
"Bei welchen Drogen streben die TeilnehmerInnen eine Konsumreduktion an?"
Die Drogen, die beim Bemühen der KlientInnen um Konsumreduktion an erster Stelle stehen, gehen „quer Beet“: Crack, Kokain, Heroin, Alkohol, Diazepam, Subutex u.a.
"Wie definiert man bei illegalen Drogen eine ‚Konsumeinheit’?"
Was "1 Konsumeinheit" als Maßeinheit bei illegalen Drogen bedeutet, ist definitionsbedürftig. Im KISS-Programm wird diese Einheit im Gespräch mit jedem Klienten individuell definiert – und vom Klienten letztlich selbst festgelegt. Meist lässt sich dieses Maß recht schnell finden – bisweilen von den KlientInnen mit akribischer Genauigkeit festgelegt (etwa so, dass sie Konsummengen genau abwiegen).
Beispiele für Konsumeinheiten (KE), die KlientInnen bisher gewählt haben: 1 KE Crack = 3 Köpfe Crack von insgesamt 0,2 Gramm (= € 10); 1 KE Kokain = 0,1 Gramm pro Nase (anderer Klient: 1 KE = 1 Linie Kokain pro Nase); 1 KE Heroin = 0,1 Gramm Heroin (= € 5; anderer Klient: 0,5 Gramm); 1 KE Cannabis = 1 Joint von 0,1 Gramm (anderer Klient: 0,2 Gramm; wieder anderer Klient: Zwischen 0,3 und 0,5 Gramm); 1 KE Benzodiazepine = 1 Tablette zu 15 Milligramm (anderer Klient: 10 Milligramm); 1 KE Nikotin = 1 Zigarette; 1 KE XTC = 1,5 Tabletten; 1 KE Polamidon = 14 ml (ärztlich verschrieben); 1 KE Alkohol = 0,4 cl Whiskey im Longdrinkglas (= 0,7 „Standardgetränkeeinheit“).
Also: Die Festlegung dessen, was „1 Konsumeinheit“ ist, bestimmt sich durch die bisherigen Konsumgewohnheiten der KlientInnen und lässt sich in der Praxis wesentlich leichter vornehmen, als dies von Fachkräften vorab vermutet wird.
"Wie viel Aufwand ist es, eine KISS-Gruppe durchzuführen?"
Für die allererste KISS-Gruppe, die man durchführt, braucht es einige Vorbereitungszeit für das Erstellen, Kopieren und Richten aller benötigten Materialien (vgl. Trainermanual), das Ausstatten des Raumes, das mentale Durchgehen („Auswendiglernen“) der Agenda usw. Diese Vorbereitungszeiten werden deutlich kürzer mit zunehmender Erfahrung, zumal Flipcharts wieder verwendet werden können.
Dazu kommt etwa 1 Stunde gemeinsame Vorbesprechung mit dem Ko-Trainer/ der Ko-Trainerin, an der sich auch mit zunehmender Routine nichts ändert. In diese Vorbesprechung geht auch das „Trainerprotokoll“ der jeweils letzten KISS-Sitzung ein. (vgl. Trainermanual).
"Was muss man beachten, damit eine KISS-Gruppe gut läuft?"
"Liebe Deine Leute und tu, was Du willst!" Dazu kommen: Die Agenda in der vorgesehenen Zeit durchführen (bisweilen schwierig!) + alle Aktivierungen und Visualisierungen gekonnt umsetzen + Gruppendynamik beachten und ihr gerecht werden + auf einzelne TN angemessen eingehen (z.B. wenn ein TN weint).
"Welche Ergebnisse sind durch KISS zu erzielen?"
Die meisten TN der ersten KISS-Gruppe (Palette Hamburg) konnten den Konsum ihrer Hauptsubstanz zum Teil erheblich reduzieren. Die TN haben gezielte Konsumreduktionen auch bei anderen von ihnen konsumierten Substanzen angestrebt und erreicht. Veränderungen sind bei einigen KlientInnen auch in anderen Lebensbereichen in Gang gesetzt worden (z.B. Partnerschaft).